Von Gerhard Kronberg  •  17. Januar 2006

Viele Menschen, die Aikido sehen, sind nicht nur fasziniert von der Dynamik, Kraft und Eleganz, die in seinen Bewegungen liegen, sondern auch von der Übungsatmosphäre, der Konzentriertheit der Übenden sowie von der Ruhe und Würde, die in den zum Aikido gehörenden Ritualen liegen.

Die Botschaft, die der Aikidobegründer Morihej Ueshiba (1883-1969) als sein eigentliches Anliegen ansah, war, Aikido als einen Weg des Friedens und der Harmonie mit der Schöpfung zu begreifen.

Mittels dieses Mediums soll also der Übende mit sich selbst sowie mit der ihn umgebenden Schöpfung in Einklang kommen.

Das Üben eines der traditionellen „Wege“ Japans hat das Ziel, den Übenden über Konzentration und Wiederholung der Übung von den zerstreuenden Aspekten des Alltags weg- und zu sich selbst hinzuführen. In der – oft rituellen – Wiederholung einer Übung werden die diffusen Persönlichkeitsanteile abgelegt und der Übende erfährt „am eigenen Leib“ eine heilsame Struktur, die ihn ordnet und in der aufmerksamen Wiederholung zu sich selbst hinführt.

Einen Weg zu gehen bedeutet, nicht allein das Medium zu beherrschen, vielmehr soll der Übungsweg zum Spiegel der eigenen Person werden und zu unserer Entwicklung beitragen. Der Sinn der Wiederholung liegt dabei nicht nur darin, Sicherheit in der Ausführung einer Technik zu bekommen und so zu einer größeren äußeren und inneren Sicherheit und Ruhe zu finden. Der tiefere Sinn der Wiederholung einer Übung (im Aikido – Kata) besteht darin, zu einer größeren Übereinstimmung mit unserem eigentlichen Wesen, dem „wahren Selbst“, zu kommen.

Das schließt notwendigerweise den schrittweisen Wandel unserer Persönlichkeit mit ein. Im Gegensatz zu den oft komplexen Anforderungen, die der Alltag an uns stellt, ermöglicht ein Übungsweg durch seine Struktur, Wiederholung und Konzentration, unsere äußeren, funktionierenden Persönlichkeitsschichten zu überschreiten und uns selbst beim Üben substantieller zu begegnen als im Alltag.

Ob ein Übungsweg in diesem Sinne zu einem Spiegel unserer Entwicklung wird, hängt zu einem großen Teil davon ab, inwieweit der Übende im Laufe der Zeit eine Wahrnehmungsfähigkeit für sich entwickelt, die über den äußeren Ablauf, ja sogar über Aspekte wie Ruhe und Konzentration hinausreicht und die sich auf die Substanz seiner Person bezieht. Der Übende muss im Verlauf seines Weges selbst „das Objekt“ der Übung werden.

Wenn es dem Übenden nicht gelingt, neben der Form, die er trainiert, auch auf sich und die eigene Verfassung zu achten, kann es beim Trainieren einer Kunstfertigkeit bleiben. Es erscheint daher sinnvoll, zwischen einem äußeren und einem inneren Übungsziel zu unterscheiden.

Das äußere Ziel eines traditionellen Übungsweges ist es sicher, eine Meisterschaft in der Technik zu erlangen; das innere Ziel ist es, dass die Meisterschaft im Außen einhergeht mit einem inneren Reifungsprozess, der das äußere Ergebnis glaubhaft als Ausdruck eines innerlich gereiften Menschen erscheinen lässt. Ein solcher Weg erfordert Jahre, eher noch Jahrzehnte. Denn der Übende begegnet nicht nur seinem Unvermögen in der Ausführung einer Technik, er begegnet in dem Maße, wie seine äußere Sicherheit zunimmt, auch den Störungen, die in ihm selbst auftauchen.

Innere Störungen

Diese Störungen können Gedanken und Emotionen des Alltags sein, die wir zum Training mitbringen, sie können in unseren Persönlichkeitsanteilen bestehen, die uns ständig begleiten, und sie können durch das Medium selbst hervorgerufen werden, das wir üben. Sie können beim Aikido in Allmachtsphantasien, aber auch in Ängstlichkeiten bestehen, die beim Ausführen einer Technik auftauchen. Sie können aber auch in zu großem Ehrgeiz liegen sowie in unseren vielfältigen Eitelkeiten bis hin zu Empfindungen eigener Großartigkeit und einem Selbst-Verliebtsein, was durch die Ästhetik des Mediums wie durch Übungsfortschritte im Ausführen der Techniken bewirkt werden kann. Diese inneren Vorgänge sind dem Übenden oft nicht oder nur wenig bewusst, auch wenn sich manches im Laufe der Jahre abschleift und legt.

All diese Emotionen, Gedanken und inneren Bilder gehören zu uns, aber sie verhindern auch, dass wir ganz und gar bei dem sind, was wir gerade tun. Und sie verhindern, auch wenn sie uns nicht bewusst sind, dass unser eigentliches Selbst, das frei ist von Alltagsproblemen, Egoismen, Ängstlichkeiten, Eitelkeiten oder anderen persönlichen Inhalten, sich durch das Training entwickeln kann.

Es geht nicht darum, diese inneren Vorgänge zu unterdrücken, was ohnehin nur kurze Zeit hilft, sondern darum, sich ihrer bewusst zu werden und sie nach und nach zu lassen (loszulassen).

So wie sich uns der Übungsweg in seiner ganzen Vielfalt und Komplexität nur im Verlauf von Jahren erschließt, so können wir auch unsere inneren störenden Vorgänge nur langsam erkennen und loslassen.

Ein Aikidoka steht – seinen inneren Weg betreffend – also vor einem zweifachen Problem. Zum einen muss er Techniken so üben, dass er sich im Üben nicht an das Außen (an die Technik und den zu kontrollierenden Partner) verliert. Die Wiederholung und gewonnene Sicherheit muss vielmehr ermöglichen, dass ihn der Übungsweg seiner eigentlichen Wesensnatur, „dem wahren Selbst“, näher bringt.

Dazu bedarf es einer Freiheit von inneren Vorgängen, die verhindern, dass der Übende und die Technik nach und nach eins werden. Dieses Eins-Werden mit der Übung ist eine Voraussetzung für das Erwachen der eigentlichen Wesensnatur in uns. Wir selbst aber stehen mit unseren verschiedenen Persönlichkeitsanteilen diesem Erwachen am stärksten entgegen.

Übereinstimmung zwischen Technik und menschlicher Reife

Der Übende muss also zum anderen mit den inneren Störungen, die durch unser Mensch-Sein und das Leben bedingt sind, so umgehen, dass sie ein inneres Wachsen nicht verhindern.

Hat er ein Sensorium für diese Störungen und stellt er sich ihrer Bewältigung ebenso, wie der weiterhin erforderlichen Konzentration im Außen, kommt er mit der Übung auf einen Weg, der irgendwann im Eins-Sein mit der Übung die Übereinstimmung zwischen ausgeführter Technik und menschlichem Reifen durchscheinen lässt.

Diese Übereinstimmung zwischen Technik und gereiftem Mensch-Sein geht über eine hervorragende, ja vielleicht faszinierende Technik hinaus. Sie ist das Ergebnis des „Weges“, den der Praktizierende mit dem Medium und sich selbst gegangen ist.

Der äußere Betrachter wird bei einem solchen Übenden nicht nur eine große Präsenz wahrnehmen, sondern auch den Eindruck eines harmonischen Ganzen bekommen, der sich auf die Person und die von ihr ausgeführte Technik bezieht.

Selbst wenn Fehler in der technischen Ausführung erkennbar sein sollten, so wird man doch sehen, dass hier ein langer Weg gegangen worden ist, der sich nicht nur auf das Üben und Vervollkommnen der Technik beschränkt, sondern auf dem sich der Mensch mit seiner gesamten Persönlichkeit einbezogen hat.

Ungeachtet der Frage, wie weit wir uns im Aikido entwickeln halte ich den „Weg“, also den menschlichen Entwicklungs- und Reifungsprozess (…) für das eigentliche Ziel wie auch für die Frucht dieses Übungsweges. Ein solcher Entwicklungs- und Reifungsweg bedeutet darüber hinaus aber auch, kein „Ziel“ mehr anzustreben, sondern diese dauernde Arbeit an sich selbst als das eigentliche Ziel des Übungsweges zu begreifen.

Inneres Frei-Werden

Es besteht die Gefahr, dass mit zunehmendem Können und Routine sich entweder ein gewisses Erlahmen im Training einstellt oder dass aufgrund der erarbeiteten Fähigkeiten zu sehr das Ergebnis – eine gute Technik und ihre Effektivität – ins Blickfeld der eigenen Aufmerksamkeit kommt, unsere Persönlichkeit aber kaum eine Rolle spielt. Durch ein dauerhaftes – insbesondere geistiges – Erlahmen beim Training oder ein zu starkes Fixieren der Technik werden indes die inneren und wohl auch die äußeren Entwicklungsmöglichkeiten für den Übenden eingeschränkt.

Wenn man nicht mehr auf dem „Weg“ weiterkommt, ist es hilfreich, den eigenen Stand zu reflektieren und sich hierbei nicht allein auf die Weiterentwicklung oder Vervollkommnung der technischen Abläufe zu beschränken, sondern auch die eigene Persönlichkeit respektive den eigenen „Weg“ in das Blickfeld einzubeziehen. Für eine Gesamtentwicklung ist es notwendig, über die Technik und ihr Üben hinauszugehen und sich mit seiner ganzen Person immer wieder neu in das Training mit hinein zu nehmen. Beziehen wir neben den Schwierigkeiten der verschiedenen Techniken unsere inneren Unvollkommenheiten in das Üben in rechter Weise mit ein, überlagern sie beim Üben immer weniger unser Tun und auch immer weniger unsere eigene Person. Es sollte dabei weder zu einer Fixierung der inneren Vorgänge kommen noch zu ihrer Verdrängung, sondern um ihr Gewahr-Werden und in der fortgesetzten Übung um ein schichtweises Loslassen.

Eine solche Entwicklung trägt keine schnellen Erfolge in sich, sondern dieser Prozess dauert Jahre oder Jahrzehnte. Einhergehend mit dem Fortschreiten in der Technik und dem Loslassen der störenden inneren Anteile entwickelt sich langsam ein konstruktives Gefühl für eine auch innerlich stimmige Atmosphäre, das langsame Wachsen des „wahren Selbst“. Dabei entsteht ein innerer Zusammenhang zwischen einer „reinen“, d.h. von inneren Vorgängen freien Technik und uns selbst. In dieser Übereinstimmung zwischen ausgeführter Technik und Person ist eine solche „reine“ Technik Ausdruck unserer größer werdenden inneren Freiheit sowie unserer wachsenden eigentlichen Wesens-Natur, die frei ist von störenden Gedanken- und Emotionsvorgängen.

Dieser Entwicklungsprozess braucht Zeit und ist eher unspektakulär, dafür aber umso nachhaltiger, da der zunehmende Fortschritt in der Übereinstimmung von Außen und Innen ein Gefühl der Ganzheit und damit des Friedens vermittelt und zu Wiederholung und Weiterentwicklung motiviert. Zu einem Ende kommt man auf einem solchen Weg wohl kaum, da wir als Menschen immer wieder mit inneren wie äußeren Diffusitäten konfrontiert sind.

Auch wenn wir im wiederkehrenden Alltag die positiven Erfahrungen, die wir im Dojo machen, nicht halten können, sondern immer wieder eingeholt werden von den vielfältigen äußeren und inneren Problemen des Lebens und unserer eigenen Person, so wirken die guten Erfahrungen während des Übens doch nach, stärken uns und lassen uns mit unserer Umgebung und den Problemen des Alltags zumindest manchmal anders umgehen und vielleicht auch einige Situationen besser meistern, als wenn wir keinen Übungsweg beschreiten würden.

Auszug aus dem gleichnamigen Artikel, vollständig erschienen in „AIKIDO“ –
Fachorgan des Aikikai Deutschland, Fachverband für Aikido e. V.“,
Ausgabe 1/2006, S. 8-11,
Gekürzt und bearbeitet für eine Veröffentlichung auf dieser Website
mit freundl. Genehmigung des Autors

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