
Vorspann und Einführung
Geheimnisvolle Kräfte, die dem legendären Aikidogründer Morihei Ueshiba (1883–1969) nachgesagt werden – ein Mythos? Ebenso wie den Meistern verschiedener japanischer und chinesischer „innerer“ Kampfkünste, deren Kräfte weit über das Vorstellbare hinausgehen. Spielen dabei Faszien, die erst vor wenigen Jahrzehnten entdeckt wurden, eine Rolle? Die Forschungen der letzten 30 Jahre lassen in vielerlei Hinsicht ein unglaubliches Potential vermuten.
Frühe Forschungsansätze, etwa im Rahmen der Rolfing-Methode und neuartiger Faszien-Fitness-Methoden zeigen: Dieses Netzwerk ist möglicherweise die körperliche (anatomische) Basis jener „Inneren Kraft“, von der es einst hieß, sie sei unerreichbar.
Und was das neue Wissen über Faszien für unsere Gesundheit, für unser alltägliches Leben künftig bedeutet, läßt sich im Moment nur erahnen.
Sind sie darüber hinaus vielleicht sogar identisch mit den geheimnisvollen Meridianen der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM)?
Wer sein Ei gepellt oder den Sonntagsbraten vorbereitet hat, kennt diese dünnen, milchig-weißen Häutchen – elastisch, zäh, und für den Verzehr nicht geeignet. Auch im menschlichen Körper durchziehen elastische Faszien den gesamten Organismus. Sie umhüllen Muskeln, sogar jede einzelne Muskelfaser, Nerven und Organe, halten diese an ihrer Position und verbinden alles zu einem faszialen Netzwerk.
Dieses Netzwerk gibt unserem Körper Struktur und unterstützt den Lymphkreislauf. Zudem korrespondieren unzählige Rezeptoren und Nervenendungen darin direkt und ständig mit unserem Gehirn. So registrieren sie unterschiedlichste Reizqualitäten und -intensitäten und ermöglichen uns die Eigenwahrnehmung von Lage und Bewegung im Raum.
Somit könnten die Faszien möglicherweise ein wichtiger Baustein bei der Transformation unseres vom Leben geprägten „Alltags“körpers hin zu einem „Aiki“körper sein. Der wäre nicht nur den Anforderungen einer Kampfkunst deutlich besser gewachsen.
Wobei aber erst das Zusammenspiel von Skelett, Muskeln, Sehnen, Gelenke, Faszien und Atmung gewissermaßen den körperlichen „Unterbau“ des Aikikörpers bildet.
Die Anfänge der Faszienforschung
Westliche Wissenschaftler erkennen erst heute zunehmend die zentrale Rolle der Faszien für Beweglichkeit, Schmerzempfinden und das allgemeine Wohlbefinden. In der Medizin waren sie zwar bekannt, hat sie aber eher wegpräpariert als wenig interessantes „Verpackungsmaterial“.
Hier waren es eher die alternativen Heiler, die sie intuitiv in ihre Behandlungen integrierten.
Mitte des 20. Jahrhunderts legte Ida Rolf, eine amerikanische Biochemikerin, mit ihrer Methode des Rolfing den Grundstein zur Entwicklung der heutigen Faszienforschung. Sie betrachtete den menschlichen Körper als ein System, in dem das Bindegewebe nicht nur stützt, sondern auch – im Zusammenspiel mit der Schwerkraft – Form und Bewegung beeinflusst.
In Deutschland wurde die Faszienforschung maßgeblich durch Prof. Dr. Robert Schleip von der Universität Ulm vorangetrieben. Er entdeckte, dass Faszien nicht nur passive Strukturen sind, sondern aktive Kontraktionen durch spezialisierte Zellen – die sogenannten Myofibroblasten – ausführen können.
Die Anfänge der Faszienforschung werden von Dr. Robert Schleip (Universität Ulm) auf unterhaltsame Weise kompetent dargestellt.
In den 1990er Jahren entwickelte Thomas Myers in den USA das Konzept der „Anatomy Trains“. Seine Arbeit kartierte myofasziale Leitbahnen, die das Fasziensystem im Körper beschreiben.
Im Rahmen einer Veranstaltung von Gespräche bei Google (engl., aber mit gut verständlichen deutschen Browser-Übersetzungen) berichtet er über seine Forschungsarbeit und seine Erkenntnisse.
Ebenfalls stellt Myers seine Überlegungen und Vorschläge vor für ein gesundes und dem menschlichen Körper entsprechendes Bewegungsverhalten als Korrektiv für die unterschiedlichen zivilisatorischen Anpassungsproblematiken.
Und es gibt auch für Aikidoübende wertvolle Informationen über das fasziale Netzwerk, die für das Training sehr nützlich sein könnten.
Am Ende (ab 38:58) gibt Tom Myers gute Antworten auf zwei interessante Fragen aus dem Publikum.
Übrigens
Nach aktueller Lehrmeinung führen überbeanspruchte Muskeln durch Mikrotraumata bzw. Mini-Rissen in den Muskelfasern zu einem "Muskelkater". Da im umhüllenden Fasziengewebe viele Schmerzrezeptoren liegen, scheint es naheliegend, dass der Muskelkater eigentlich ein "Faszienkater" ist.
(Siehe hierzu das Video Dr. Schleip: Der Nutzen von Faszientraining für Sportler (und Aikido Übende!!!).
Die gesundheitliche Bedeutung der Faszien
Gesunde Faszien sind elastisch, gleitfähig und gut hydriert. Sie ermöglichen reibungslose Bewegungen und verteilen mechanische Kräfte im Körper. Doch Stress, Bewegungsmangel oder Verletzungen können zu Verklebungen und Verhärtungen der Faszien führen. Die Folge sind oft Schmerzen, Bewegungseinschränkungen und ein erhöhtes Verletzungsrisiko.
Faszien beeinflussen auch die Schmerzwahrnehmung, da sie viele Nervenenden enthalten. Chronische Schmerzen, für die keine organische Ursache gefunden wird, können häufig auf gestörte Faszien zurückgeführt werden. Regelmäßige Bewegung und gezielte Dehnübungen können die Faszien geschmeidig halten und zur Schmerzlinderung beitragen – regelmäßiges Aikidotraining kann hier einen wertvollen Beitrag leisten.
Der sogenannte „altersbedingte“ Verlust an Elastizität und Schwung ist wohl oft im „verfilzten“, „verklebten“ und „spröden“ Bindegewebe zu suchen. Ob diese Umschreibungen zutreffend sind, ist erstmal unerheblich.
Wichtiger ist vielmehr die gute Nachricht: der kollagene „Verfilzungsprozess“ ist aufhaltbar und teilweise sogar wieder rückgängig zu machen.
Dazu können häufige sanfte Bewegungen und gezielte Dehnübungen die Faszien geschmeidig halten, Schmerzen lindern, die Mobilität fördern und Verletzungen vorbeugen – regelmäßiges Aikidotraining kann hier einen wertvollen Beitrag leisten..
Damit wir noch lange jung und lebendig bleiben oder wieder werden.
Zukunft der Faszienforschung
Die Forschung steht noch relativ am Anfang. Neue Erkenntnisse über die Rolle der Faszien könnten die Medizin- und Bewegungswissenschaften revolutionieren. Bereits jetzt bieten sie spannende Ansätze für Therapie und Prävention.
Faszien-Fitness und Aikido
In den letzten Jahren hat sich Faszien-Fitness als eigenständige Disziplin etabliert. Ziel ist es, die Elastizität und Funktionalität des Bindegewebes zu verbessern. Techniken wie federnde Bewegungen, dynamisches Dehnen und gezielte Massagen helfen, „Verklebungen“ zu lösen und die Faszienstruktur zu regenerieren.
Das kann uns Dr. Schleip im folgenden Video detaillierter erläutern.
Besonders in Kampf-/Bewegungskünsten wie Tai-Chi, Qi Gong, Cheng Hsin, Aikido oder Kinomichi spielt das fasziale Netzwerk eine zentrale Rolle.
Für die Entwicklung einer „Inneren Kraft“ könnten hier die physischen Grundlagen gefunden werden.
Damit einhergehende Fähigkeiten sind mit Begriffen wie „Chi“ (chin.) oder „Ki“ (jap.) beschrieben, welche die Lebensenergie im Körper repräsentieren. Auch wenn der Begriff „Faszien“ in den Herkunftsländern der Kampfkünste unbekannt war, wurden deren Möglichkeiten intuitiv genutzt.
Welchen Nutzen können Sportler allgemein und auch Aikido-Übende aus dem Faszientraining ziehen?
In einem weiteren Video erhalten wir interessante Informationen über den „6. Sinn“.
Muskel – trifft Hirn – trifft Faszie
Hängt doch alles mit allem zusammen?
Praktisches Faszien-Fitness-Training zum Aufbau eines geschmeidig-kraftvollen Bindegewebes.
Füsse – Stehen – Gehen – Bewegen
Bedeutung der Plantarfaszie für unsere Bewegungsenergie (YouTube, 09.10.2019)
Vornehmlich in den „inneren“ Kampfkünsten wird richtiges Stehen und Gehen oft als Voraussetzung definiert. Beides ist natürlicher Bestandteil unseres täglichen Lebens. Deshalb auch durchaus denkbar für eine Vermittlung außerhalb des normalen Aikido-Betriebes.
Faszien in der Zukunft
Die Forschung steht erst am Anfang. Neue Erkenntnisse über die Rolle der Faszien könnten die Medizin und Bewegungswissenschaften revolutionieren. Bereits jetzt bieten sie spannende Ansätze für Therapie und Prävention.
Möglicherweise kommen wir damit den geheimnisvollen Kräften der alten Meister ein gutes Stück näher.
Bisher liegt auch beim Aikidotraining das Hauptaugenmerk vor allem auf der kardiovaskulären Kondition und der neuromuskulären Koordination, ggf. noch auf dem Aufbau der Muskulatur.
Deshalb lohnt es sich, die neugewonnenen Erkenntnisse in den vorbereitenden Übungen zu berücksichtigen. Sie sind schließlich auch Grundlage der Aikidobewegungen.
Die Teilnahme an Faszien-Fitnesskursen kann da sehr unterstützend und hilfreich sein. Werden hier doch die korrekten Ausführungen unterrichtet und eingeübt.
Eine Übertragung in die Bewegungsabläufe des Aikido ist dann auch kein Hexenwerk mehr.
Hier ist jeder einzelne gefordert, dies in bewusster Übung zu erspüren, zu erfahren. Nicht nur im Dojo-üblichen Partnertraining, sondern auch und vor allem im Solotraining außerhalb des Dojo.
Den Meridianen der TCM auf der Spur?
Die gegenwärtige Erforschung des menschlichen Fasziennetzwerkes hat eine höchst interessante Nebenwirkung gezeigt.
Aktuelle Forschungsansätze deuten nämlich darauf hin, dass es interessante Überschneidungen zwischen dem menschlichen faszialen Netzwerk und den Meridianverläufen der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) geben könnte. In der TCM werden Meridiane als Kanäle für den Durchfluss der Lebensenergie „Qi“ beschrieben.
Einige Therapeuten und Forscher vermuten Parallelen zwischen den myofaszialen Leitbahnen und den TCM-Meridianen – eine These, die allerdings noch weitere Untersuchungen erfordert.
Wissenschaftliche Erkenntnisse und Diskussion
Die Arbeiten von Dr. Robert Schleip und Thomas Myers liefern zwar bereits tiefgehende Einblicke in die Funktionalität der Faszien. Dennoch lassen sich hieraus bisher keine eindeutigen wissenschaftlichen Beweise für eine direkte Übereinstimmung zwischen Faszien und den Meridianen der TCM ableiten. In zahlreichen Vorträgen und Veröffentlichungen wird allerdings die potenzielle Verbindung diskutiert, doch bleibt die Frage nach einer direkten Entsprechung vorerst noch offen. Weitere Forschung ist daher notwendig.
Studien und Forschungsergebnisse
Mehrere Übersichtsarbeiten verschiedener Autoren legen nahe, dass das Fasziennetzwerk des Menschen durchaus als anatomische Grundlage für die in der TCM beschriebenen Meridiane und für Akupunkturpunkte dienen könnte.
Zudem haben einige Studien qualitative und quantitative anatomische Übereinstimmungen zwischen Triggerpunkten und klassischen Akupunkturpunkten identifiziert – was ebenfalls auf eine Verbindung zwischen myofaszialen Strukturen und TCM-Meridianen hindeutet.
Kritische Betrachtung
Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass sich die Hypothese einer direkten Identität von Faszienstrukturen und TCM-Meridianen noch immer in der Diskussion befindet. Einige Studien weisen zwar auf potenzielle Zusammenhänge hin, doch bedarf es weiterer Forschungen, um diese Annahmen zu bestätigen..
Bis dahin sollten diese Erkenntnisse als hochinteressante Möglichkeit und nicht als gesicherte Fakten betrachtet werden.
Literaturhinweise
Beckmann, D. (2013). Die Zick-Zack-Linie. Düsseldorf: Autorenverlag.
Frantzis, B. K. (1995). Qi Gong, Wege zu den Energiequellen des Körpers. Reinbek: Rowohlt Taschenbuchverlag GmbH.
Jacobs, D. (1990). Die menschliche Bewegung. (Dore Jacobs Berufskolleg, Hrsg.) Essen.
Myers, T. W. (2006). Anatomy Trains, Myofasziale Leitbahnen. München: Urban & Fischer Verlag.
Roumanoff, D. (1994). Kinomichi, Die Methode Noro. Heidelberg – Leimen: Werner Kristkeitz Verlag.
Schleip, R. & Bayer, J. (2014). Faszien Fitness. München: riva Verlag – Münchner Verlagsgruppe.
Waysun Liao (1996). Die Essenz des T’ai Chi. München: Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf.
Xander, H. (2011). Sensationen in den Sehnen. Zornheim: intendons e. K.
Weblinks
Prof. Dr. Robert Schleip, Faszienforscher an der Universität Ulm, Humanbiologe, Certified-Advanced-Rolfer, Feldenkrais Lehrer.
Der Hype um verklebte Faszien. Von Rückenschmerzen und Faszien: Das bringen Übungen mit der Faszienrolle. Dr. Julia Fischer | ARD Gesund. (15.08.2024).
Bewegen wie die Meister, Himmelfahrt-Seminare in Damme bzw. Osnabrück mit Dirk Beckmann, Faszien-Fitness-Trainer und -therapeut, Düsseldorf.
Kinomichi® ‒ hervorgegangen aus dem Aikido, geboren in der Begegnung östlicher und westlicher Kultur.