Von Eckhardt Hemkemeier  •  20. Dezember 2021

Lehrer stehen immer wieder in privater und öffentlicher Kritik. Im Budo wie auch in herkömmlichen Schulen werden ihnen Arroganz, Faulheit, Inkompetenz und vieles mehr vorgeworfen. Wer dies tut, sollte zunächst sich selbst in Aktion und Reaktion prüfen. Vielleicht hilft dabei ja meine persönliche Erfahrung aus beiden Positionen.

„Man sagt: Wer die Jugend hat, hat die Zukunft.
Das ist so nicht ganz richtig.
Wer die Jugend hat, hat erstmal gar nichts.
Nur wer die richtigen Lehrer hat, der hat die Jugend
und dann auch die Zukunft.“

Anton Geesink (NL), 10. Dan Judo
Olympiasieger, Weltmeister, Europameister

Erwartungsillusionen

Einige Lehrer trennen sich von einem Schüler, der nach ihren Vorstellungen nicht das wirkliche Ziel verfolgt. Mancher Schüler trennt sich vom Lehrer, weil dieser nicht mehr seinen Vorstellungen entspricht. Das sollte so sein, wenn da nicht manchmal ein Egoismus im Spiel ist.

Ist ein Lehrer „idealtypisch“, wird dieser, sobald er nicht mehr dem Ideal entspricht, enttäuschend sein. Er erfüllt also nicht mehr das Maß, welches man an ihn anlegt. Ist es nun am Schüler, den Lehrer zu messen, oder sollte er sich nicht besser bemühen zu verstehen, was der Lehrer ihm vermitteln will? Soll der Lehrer sich den Bedürfnissen der Schüler anpassen, oder soll er seine Sache vermitteln. Und wie er es vermitteln will? Wie vielen Schülern oder welchen Schülern soll er sich anpassen? Wie viele Ideale erfüllen? Ist das nicht absurd?

Muss der andere Mensch, wer auch immer, so sein wie wir es wollen? Eltern und Lehrer spielen da eine besondere Rolle. Wir sollten Abstand nehmen vom Maßnehmen an unseren Eltern und Lehrern. Sie haben eine besonders schwierige Aufgabe mit großer Verantwortung. Fehler gehören auch zu ihrem Leben, wir sollten sie nicht wiederholen.

Eines Tages könnten auch wir Lehrer und Eltern sein und stünden denselben Tatsachen gegenüber. „Uns hört keiner mehr zu, da jeder andere alles besser weiß, oder das wir es besser machen sollten, weil es ein anderer auch so macht“.

Es werde Licht …

Shimizu Sensei, der Begründer des Tendoryu-Aikido, ist ein Mensch, der auf große Erfahrungen im Leben und im Budo zurück blickt und diese an uns weiter vermittelt.

Er ist weder ein Idol noch ein Ideal, noch glaube ich, dass er dies sein möchte. Sensei unterrichtet Tendoryu-Aikido und beschränkt sich nicht nur auf Technik, sondern versucht, wie jeder Lehrer, auch Verständnis für Charakterbildung zu vermitteln. Er ist strikt, direkt und offen.

Deswegen möchte ich eine Weile über meine Erfahrungen sprechen.

Wer glaubt,
ein Lehrer sollte so sein,
wie man es selber möchte,
der braucht keinen Lehrer.

Ich beobachte immer wieder, vor allem in der letzten Zeit, dass Menschen einen besonderen Hang zur Sucht nach dem Ego haben. In den Geschlechterbeziehungen wie auch Freundschaften und in diesem speziell gesehenen Fall der Lehrer-Schülerbeziehung.

Es ist alles dasselbe

Zunächst möchte ich über meine Erfahrung mit meinen Instrumentallehrern berichten. Ich begann im Kindergarten mit der Blockflöte, und die Diakonissin, die den Unterricht leitete, war sehr nett. Dennoch gab es für uns keine Wahl: üben und mitmachen dürfen oder nicht üben und nicht mitmachen dürfen.

Meine Eltern arbeiteten schwer dafür, mich anschließend Klavierunterricht nehmen zu lassen und meinen drei Brüdern ebenfalls die Möglichkeit zu erschließen, ein anspruchsvolles Instrument erlernen zu können.

Mein Klavierlehrer, der Organist unserer Kirche, kam wöchentlich zu uns, um mich zu unterrichten. Er sah dies nicht als Dienstleistung an, sondern als Möglichkeit für uns, von ihm etwas zu lernen. Hatte ich mich also nicht vorbereitet, sagte er nie etwas meinen Eltern, sondern schimpfte nur mit mir. Er warf mir vor, das Geld meiner Eltern zu verschwenden und riet mir, besser mit dem Unterricht aufzuhören.

Das war mir immer äußerst peinlich, und ich begann fleißiger zu sein und aufzuhören mich vor meinen Freunden zu rechtfertigen, dass ich mal wieder nicht mit ihnen spielen konnte.

Mein Klavierlehrer lud mich nun immer zu sich nach Hause zum Unterricht ein, wo ich auf einem neuen Flügel spielen durfte. Das war wohl eine Ausnahme. Die Faszination Musik überlagerte allmählich alles. Ich lernte autodidaktisch Gitarre, Bassgitarre, Bassflöte.

Ich wechselte auf eine Schule mit musischem Bereich, der ein Internat angeschlossen war. Dort erhielt ich Kontrabaßunterricht. Der Lehrer, ein Mitschüler meines Bruders, übte mit mir jeden Tag.

Nach drei Monaten offenbarte er mir, dass ich mich zur Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule als Jungstudent anzumelden hätte und er mich am folgenden Tag mit zu seinem Lehrer nehmen würde.

Mir rutschte ein wenig das Herz in die Hose, denn nun sollte ich einen Meister des Basses kennen lernen.

Wohnt jedem Anfang ein neuer Zauber inne?

Anfangs war es ein wenig enttäuschend. Wir betraten den schönen aber sehr verqualmten Unterrichtsraum des Professors, welcher mich kurz begrüßte und uns anwies Platz zu nehmen. Ein älterer Student bekam gerade eine Stunde. Ich traute meinen Augen nicht, der Student hatte eine Zigarette im Mund, der Lehrer eine Pfeife. Dieser sang gleichzeitig leidenschaftlich die Stimme des Stücks mit, welches der Student spielte.

Dann brach er ab und schimpfte. „Herr Soundso, ich mache ihnen gleich Feuer unter dem Hintern, wenn Sie nicht üben und ein wenig engagierter spielen“. Der Student antwortete, dass er das wohl nötig habe, und der Professor zog ein riesiges Gasfeuerzeug hervor, drehte es auf die höchste Stufe und hielt es dem Studenten brennend an den Hintern. Der musste mit seinem Bass einen Satz machen, dennoch war die Cordhose an der Stelle schwarz.

Alle lachten, nur ich war schockiert. So vornehm ging das hier wohl doch nicht her.

Erleben und entscheiden

Daraufhin spielte er uns auf dem Instrument des Studenten das Stück vor.

Ich fiel aus allen Wolken, so etwas hatte ich noch nie gehört. Selbst jede Schallplatte konnte mich nicht mehr beeindrucken als diese kleine Livedemonstration.

Dann sagte er zu mir, ich solle ein paar Töne spielen, und ich kratzte nervös meine kleine Etüde herunter. „Gut“, war der Kommentar, „ich nehme Sie“. Damit war ich entlassen und durfte gehen.

Zwei Wochen später bestand ich in Anwesenheit des Direktors und des Professors die Aufnahmeprüfung. Der Direktor schaute sehr enttäuscht drein und sagte: „Herr Professor, ich lasse diesen jungen Mann in Ihren Händen und bin sicher, dass er es schafft“. Mein Professor sagte: „sicherlich“!

Strenge, Vertrauen, Hingabe,
Selbstbewusstsein und Respekt.
Geduld und immer wieder Geduld.

Es begann eine Zeit, in der ich vergaß zu schlafen, es gab nur Schule, Bass und Partys. Dann Jazzband und Rockband.

Mein Professor gab mir den Spiegel zu lesen, Eugen Herrigels, „die Kunst des Bogenschießens“ und Artikel über Politik und Bildung jeglicher Art. Er schimpfte nur, wenn ich nicht geübt hatte und hätte mich auch einmal fast rausgeworfen.

Fordern und fördern

Ich verstand allmählich seine Art zu unterrichten. Strenge, Vertrauen, Hingabe, Selbstbewusstsein und Respekt. Geduld und immer wieder Geduld. Ich hatte keinen eigenen Stundenplan mehr.

Wenn er es wollte, hatte ich 3 Stunden nacheinander Unterricht, alle anderen mussten warten. Beziehungsweise waren einige Studenten ein Magnet für die anderen Studenten. Es war ein Muss, deren Unterricht zu folgen. So saßen immer einige Studenten im Unterricht. Ich musste später andere Vorlesungen schwänzen, weil ich Bassunterricht hatte.

Ich „durfte“ in den Ferien nicht verreisen, weil mein Professor in meine Wohnung kam, um dort die anwesenden Studenten zu unterrichten. Seine japanische Frau begleitete ihn öfter, und so bekam ich immer mehr Kontakt und Verständnis für seine Art zu unterrichten. Er war Lehrer, Vater, Freund und Erzieher.

Zwei der japanischen Studenten sind heute noch meine Freunde. Auch sie verdeutlichten mir eine vollkommen andere Art der Beziehung zu einem Lehrer. Es gab kein Aber beim Lernen, Zuhören oder Spielen. Kritik übten wir nur in einer stillen Studentenrunde. Manchmal fühlten wir uns ungerecht behandelt, benachteiligt aber auch bevorzugt. Es gab auch Neid und Eifersucht. In seiner Gegenwart allerdings trat das alles zurück, wir wollten alles lernen, was er wusste und konnte.

Noch heute betrachte ich ihn als Lehrer, auch als Freund und Ratgeber. Wir duzen uns erst seit 20 Jahren, was aber dem Respekt nicht geschadet hat. Sogar als ich selbst Lehrer an der Hochschule wurde, beobachtete er meinen Unterricht und ich konnte ihn jederzeit um Rat fragen. Als ich Stil und Art ein wenig veränderte, sagte er nur, es sei ihm gleichgültig, solange es Musik bleibe und nicht von der Basis abweiche. Meine Mitstudenten und ich spielen auch nach so langer Zeit noch im Stil unseres Lehrers, verändert auf unseren Körper und Geist, eine natürliche Entwicklung.

Der 2. Bildungsweg

Als ich anfing, Aikido zu üben, merkte ich ihm zum ersten Mal richtig an, wie stolz er auf mich war. Kurz zuvor hatte ich eine gute Stelle bekommen, ich war neben ihm Lehrer der Hochschule und begann nun mit Aikido. Seine Frau bemerkte, dass Aikido wie Musik sei, der gleiche Weg. Ich begann in einer Aikikaischule, die ich nach einiger Zeit verließ, da ich den Lehrer als rau und rüde empfand.

Ich wechselte zu einer Schule, die dem Tendoryu ähnlich war, aber auf einer anderen Seite wirkliches Straßenkampfaikido war. Trotzdem ließ mich die Herzlichkeit dieser Leute lange bei ihnen verweilen.

Einer der Lehrer sagte mir: „wenn du wirklich Aikido lernen willst, musst du nach Tokio zu Shimizu Sensei gehen“. Ich hatte bereits Kontakt zur Hamburger Tendoryugruppe und zu Peter Haase, dessen langjähriger Schüler ich wurde.

Dann lernte ich Shimizu Sensei in Tokio in seinem Dojo besser kennen. Mir wurde die Parallelität zu meinen vorherigen Lehrern sehr deutlich. Mein Vater, mein Basslehrer, nun Sensei. Bis heute vergleiche ich die Striktheit, die gelegentliche Härte, die Offenheit, Herzlichkeit, Fürsorge und Bereitschaft.

Manch ein asiatischer Lehrer sagt, dass ein Europäer asiatische Kultur und Budo doch nicht lernen könne, Shimizu Sensei aber wehrt sich solchen Vorurteilen gegenüber vehement, es liegt am Einzelnen, was er aus den Lehren macht.

Viele Lehrer unterrichten nicht wirklich, sie kommen und gehen ohne Verantwortung für die Sache und den Menschen.

All das bestätigte mich darin, von meinen Lehrern zu lernen, als Lehrer selbst so zu sein, sich nicht zu verleugnen, anzupassen und zu gefallen, um meine Vorteile zu wahren.

Die Saat geht auf

Wenn das Aikido manchmal mehr verlangt als ein Freizeitsport – viele Leute haben Familie und einen harten Job – sind die Kosten doch eher gering, außer man fährt jedes Jahr ein bis zwei Mal nach Japan.

Die Ansprüche sind eher anderer Natur: äußerste Aufmerksamkeit, Bereitschaft, Benehmen, Wachheit und Achtsamkeit zu jeder Zeit.

Jeder ist frei, sich dafür oder dagegen zu entscheiden. Jemanden aber zu verunglimpfen, zu verleumden und schlechte Dinge nachzusagen, entspricht wirklich nicht der Ehre eines Samurai, auch nicht eines Deutschen, obwohl wir ja damit Geschichte gemacht haben.

Wir brauchen nicht unsere Familie zu vernachlässigen. Ein offenes Wort von Angesicht zu Angesicht ist manchmal peinlich, denn in unserer Wellnesswelt brauchen wir doch so etwas nicht mehr. Ich denke aber, lieber manchen peinlichen Moment, als langes stilles Schämen.

Wenn wir ein Problem haben, sollten wir es lösen, dazu gehört eben Mut. Mehr Mut als aus dem Hintergrund zu schießen.

„Nobody is perfect“, dieser Satz wird nur allzu gern auf einen selbst angewendet, Toleranz genießen wir gern, all die Tugenden empfangen wir gern.

Wir sollten anfangen sie zu erlernen und zu leben. Auf ewige Veränderung, unermüdliches Lernen und Verstehen.

Foto: Eckhardt Hemkemeier

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2 Kommentare

  1. Ich habe das vor 13 Jahren veröffentlicht. Natürlich unzureichend und amateurhaft im Ausdruck. Lese es aber und dank Klaus Meyer immer wieder, möchte es einfach so stehen lassen. Mit allen Fehlern.
    Und es ermutigt mich dazu, noch mehr zu veröffentlichen, auch wenn mein Atem sicher nicht so weit reicht.
    Dank an Klaus für die Hingabe . . .

    1. Eckhardt Hemkemeier beschreibt in seinem Beitrag ganz wunderbar seine Erinnerungen an die Lernzeit bei seinen wichtigsten Lehrern. Er vermittelt uns damit einmal das Bild von Lehrern, wie sie wohl jeder für wünschenswert hält, aber auch von Schülern, die wegen ihres Enthusiasmus und ihrer Begeisterung jeden Lehrer daran erinnern, warum sie diesen Beruf erwählt haben.
      Ganz am Anfang erwähnt er auch Lehrer der Regelschulen, die Bestandteil der allgemeinen Schulpflicht sind. Allerdings ist es schon ein großer Unterschied, ob an einer Pflichtveranstaltung teilgenommen werden muss oder einer selbstgewählten Neigung Raum gegeben werden darf. Ich gehe mal davon aus, dass es auch an den Regelschulen Lehrer gibt, die über die oben beschriebenen Qualitäten verfügen. Dass es bedauerlicherweise gerade dort nicht mehr davon gibt, hat in hohem Maße mit den Auswahl- und Ausbildungsverfahren für Lehramtsanwärter zu tun. In unserer überintellektualisierten Unterrichtswelt steht man den o. g. Qualitäten eher unwissend und hilflos gegenüber.
      Das Medium Aikido hat zwar ein großes Potential für eine menschliche Entwicklung, aber es muss auch abgerufen werden können. Dafür benötigt man aber auch wirkliche Lehrer, nicht nur Übungsleiter.

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